geteiltes Leben an der Neiße
Arbeiten und leben als gäbe es keine Grenze. In zwei Sprachen kommunizieren. So hatten es sich die beiden Stadtparlamente 1998 gewünscht, als sie Zgorzelec auf der polnischen und Görlitz auf der deutschen Seite der Neiße zur Europastadt erkoren. Doch ist ihre Vision Realität geworden? Wo steht die Europastadt im Jahr des 950-jährigen Stadtjubiläums?
Ein Beispiel für gelebtes Miteinander sind Sebastian und Magdalena Zielińska König. Er aus Bayern, sie aus Nordpolen lernten sich vor über 10 Jahren in Görlitz kennen, und blieben. Hier können ihre Kinder beide Sprachen leben und die Kulturen beider Länder kennenlernen. Wenn Magdalena die Zutaten für ihre Rote Beete Suppe auf dem Markt in Zgorzelec einkauft, bringt sie ein Stück polnische Heimat auf die Teller ihrer Familie. Die Lehrerin Agnieszka Korman weckt die Begeisterung für den polnischen Nachbarn bei ihren Schülern mit kreativem Unterricht. Sie begleitet eine Generation, die offen ist für das jeweils andere Land und die auch manch verbreitete Vorurteile von älteren Menschen nicht mehr nachvollziehen kann.
Auch wenn sich nur noch wenige in der Doppelstadt an den zentralen Einschnitt im Jahr 1945 erinnern können, wirkt er dennoch nach. Einen Tag vor der Kapitulation sprengte die deutsche Wehrmacht damals alle Brücken, die Görlitz über die Neiße hinweg mit der Oststadt verbanden. Ein symbolischer Vorgriff. Denn kurz danach wurde der Fluss zur neuen Demarkationslinie erklärt und Wochen später alle 7500 deutschen Bewohner aus dem nun polnischen Teil der Stadt ausgewiesen.
Es waren nicht die einzigen. Ganze 40.000 Zwangsausgesiedelte drängten in den Westteil der Neißestadt und bescherten Görlitz so den Titel „Großstadt“. Die historische Innenstadt wie die prachtvollen Gründerzeithäuser waren alle mit Flüchtlingen vollgestopft. Während sich in der nunmehr Zgorzelec getauften Oststadt erst viel später Polen in die verlassenen Häuser der deutschen „Geisterstadt“ wagten. Dieser Umstand bescherte Zgorzelec ein aufregendes Interregnum: Die Stadt wurde für zwei Jahrzehnte Heimat Tausender griechischer Bürgerkriegsflüchtlinge.
Die Geschichte der einen blieb der jeweils anderen Seite lang fremd. Denn trotz Abschluss eines „Friedensvertrages“ im Jahr 1950 blieben Trennung und Distanz dominant. Selbst nachdem 1972 die Visumspflicht zwischen den Nachbarstaaten fiel und die Grenze fortan durchlässiger wurde, wagten sich viele der Bewohner links und rechts der Neiße nicht, die wieder auferbaute Stadtbrücke zum Nachbarn zu überqueren. Manch eine oder einer bis heute.
Ihre Kinder, Enkel und die Neuangesiedelten spüren dieses Erbe und haben doch einen ganz eigenen Umgang damit entwickelt. Er ist geprägt von der Neugier. Auf die andere Geschichte, Sprache und Kultur. Und sie sind angetrieben von der Aussicht auf dem neuen Fundament Europa tatsächlich ein gemeinsames Gebilde namens Görlit[Z]gorzelec zu erschaffen.